In der Pandemie haben Verschwörungserzählungen Hochkonjunktur; egal ob »der große Austausch«, »QAnon«-Verschwörung oder die Implantation von »Microchips«. Wieso Verschwörungserzählungen auf Menschen wirken, warum Sie funktionieren und was Antisemitismus damit zu tun hat, erfahrt ihr in diesem Artikel.
Vier Grundbedürfnisse hat der Mensch
Der Psychotherapeut Prof. Klaus Grawe beschrieb, dass der Mensch vier sogenannte Grundbedürfnisse habe, deren Befriedigung eine wesentliche Quelle für ein glückliches, zufriedenes Leben sei. Diese vier Bedürfnisse sind »Bindung«, »Kontrolle«, »Lust« und »Selbstwert«. Schauen wir uns nun an, wie schwere Krisen auf Menschen wirken, lässt sich feststellen, dass genau diese Grundbedürfnisse davon beeinträchtigt werden.
In der Corona-Pandemie beispielsweise ist es sinnvoll, Abstand zu anderen zu halten und Kontakte soweit möglich zu reduzieren, um die Ausbreitung von Viren zu reduzieren. Auch ein Kontrollverlust geht mit der Pandemie einher; einerseits kann ich als einzelner wenig gegen einen »Gegner« tun, den ich nicht sehen, anfassen und abwehren kann, andererseits wird mein Leben durch Infektionsschutzmaßnahmen eingeschränkt, ohne dass ich hier ein Mitspracherecht habe. Insbesondere wird mir der Kino- und Kneipenbesuch, der Vereinssport oder der Chorbesuch genommen; Dinge also, die mir Spaß machen und die ich schmerzlich vermisse. Zu guter Letzt greifen der drohende Jobverlust oder allgemein eine sich durch die Pandemie verschärfende finanzielle Situation direkt das Selbstwertgefühl an.
Genau an diesen Punkten setzen Verschwörungserzählungen an. Die Idee, dass die Pandemie »Fake« und »ein Plan der Eliten« (zum Thema »Eliten« kommen wir noch) sei, um »das deutsche Volk zu versklaven«, ist zwar eine Horror-Vorstellung, sorgt aber gleichzeitig dafür, die oben genannten Grundbedürfnisse zu befriedigen. Als »Erleuchteter« gehörte ich zu einer Gruppe von Menschen, die diese dunklen Machenschaften durchschaut haben und bin nicht mehr allein und isoliert. Auch hole ich mir damit ein Stückweit die Kontrolle zurück; sorgt doch meine Erkenntnis dafür, dass ich mich nicht mehr an Einschränkungen halten muss und mein Schicksal wieder selbst gestalten kann. Selbstverständlich sind Treffen mit anderen Menschen, Feiern, Nähe und Einkaufen ohne ein Stück Stoff im Gesicht wieder möglich.
Schlussendlich stärkt es unglaublich mein Selbstwertgefühl – ich habe doch etwas erkannt, ich bin schalu und die ganzen »Schlafschafe« sollen sich erst mal »richtig informieren«.
»Informier dich erstmal, du Schlafschaf«
Allgemein kann man sagen, Verschwörungserzählungen arbeiten in Schwarz-Weiß-Mustern. Es gibt das pure Böse, das im Verborgenen Böses plant und tut und kurz davorsteht, die Agenda in die Tat umzusetzen. Und es gibt das Gute, eine kleine Riege von Helden, die alles erkannt haben und dagegen vorgehen, dabei ihr Leben riskieren und die vom Bösen verfolgt werden. Darüber hinaus werden komplexe Sachverhalte meist stark vereinfacht und sachkundige Meinungen und Publikationen als »Scharlatane« und »Lügenpresse« gebrandmarkt. Aber warum funktionieren diese Geschichten eigentlich, wo sie doch unendlich viele Fragen offenlassen oder Angriffspunkte bieten, um sie zu widerlegen?
Ein Beispiel? Wenn die »Eliten« versuchen, die Menschen mit einer »Fake-Pandemie« zu versklaven: Warum bedrohen sie gleichzeitig die Konzerne, die ihnen gehören? Wenn der Staat es schafft, ein Projekt zum Austausch der Bevölkerung geheim zu halten: Wieso schafft der gleiche Staat es nicht, einen Flughafen zu bauen, eine Schwebefähre auszutauschen oder einen Straßentunnel zu sanieren? Wenn alle Staaten der Erde im Allgemeinen und mit der Pandemie im Besonderen eine gemeinsame Strategie verfolgen: Erkläre mir Atomwaffen, Aufrüstung und Krieg! Verschwörungserzählungen nutzen diese Schwächen und integrieren sie einfach mit einer ins Bild passenden, weiteren Teilgeschichte. Die Konzernbesitzer gefährden die Konzerne, weil sie ihr Tun tarnen müssen, der Staat tarnt seine Machenschaften mit ansonsten zur Schau gestellten Fähigkeits-Defiziten, die Staaten tun nur so, als gäbe es Spannungen zwischen Ihnen. Die Toten sind Kollateralschäden. Krude und zynisch, passt aber ins Weltbild.
Dieses Verhalten stellt auch das größte Problem in der Kommunikation mit Verschwörungsgläubigen dar. Fragen und Informationen werden lächerlich gemacht oder verdreht; Ungläubige sind »Schlafschafe«, die sich »mal richtig Informieren sollen« (am besten bei Youtube, Telegram und Facebook) oder – noch schlimmer – Teil der Verschwörung.
Eliten – ein Wort kaschiert Antisemitismus
Besonders problematisch wird es dann, wenn solche Erzählungen keine abstrakten dunklen Mächte als Quell allen Übels ausmachen, sondern konkrete Menschengruppen. Einerseits natürlich, weil diese Anschuldigungen völliger Unsinn sind, andererseits, weil unter »Erleuchteten« damit auch Gewalt legitimiert wird.
Teil vieler Geschichten sind z.B. »Rothschilds«, »Soros-Bande«, »globale Bankenelite« – die Auflistung ist bei weitem nicht abschließend. Sie alle meinen das gleiche, ohne zu bekennen was sie tatsächlich sind: verabscheuungswürdige antisemitische Kampfbegriffe. Es ist der alte Hass in neue Form gebracht. Besonders deutlich wird das bei der QAnon-Verschwörung.
Die zentrale Behauptung ist, Barack Obama, Hillary Clinton, und George Soros (q.e.d.) und andere hochrangige Vertreter von Staat und Wirtschaft würden einen Putsch planen, um die USA (oder die BRD, wer weiß) in eine Diktatur zu verwandeln, und seien gleichzeitig in einen internationalen Kinderhändlerring verstrickt. Dieser quäle Kinder, um deren Blut zu trinken.
Widerlich? Ja. Absurd? Ja. Aber neu? Nein.
Ähnliche Erzählungen ziehen sich durch die Geschichte und Erstarken in regelmäßig in Krisenzeiten; mit bekanntem Ausgang. Insbesondere vor dem Hintergrund der deutschen Geschichte und Verantwortung wäre es also wichtig, solchen Narrativen vehement zu widersprechen und sie nicht als Ausdruck einer »Meinung« zu legitimieren.
Sind die denn »verrückt«?
Long story short: Nein. Der Umstand, dass diese Menschen psychische Grundbedürfnisse aus der Entwicklung und Verbreitung von Verschwörungsmythen beziehen, entlässt sie selbstverständlich nicht aus der Verantwortung für Ihr Verhalten. Außerdem würde diese Annahme die Situation von Menschen verharmlosen, die tatsächlich an einer psychischen Krankheit leiden.
Off-Topic: Corona-Maßnahmen kritisieren ist selbstverständlich nicht verboten
Nur weil die Corona-Leugner und Verschwörungsideologen noch so oft behaupten, wir lebten in einer »Corona-Diktatur« und Kritik an staatlichen Maßnahmen sei nicht mehr erlaubt, ist es noch nicht wahr. Die Linke kritisiert im Bundestag regelmäßig die Maßnahmen der Bundesregierung. Ein paar Beispiele für unsere bisherige Kritik an den Corona-Maßnahmen:
- Die Einschränkungen haben einen Klassencharakter – sie treffen ALGII-Beziehende, Niedrigverdiener*innen und Kleinunternehmer*innen ungleich härter
- Die Konzerne werden mit hunderten Milliarden stabilisiert; im Gegenzug gibt es quasi keine Extraausgaben für Menschen mit wenig Geld
- Es werden sogar Konzerne unterstützt, die weiterhin Dividenden (also Gewinnüberschüsse) an Aktionäre auszahlen konnten
- Für die Sicherheit in Schulen und KiTas, z.B. durch den Einbau von Luftfiltern, wurde den ganzen Sommer über nichts getan; Schüler*innen sitzen nun in der Kälte.
- Solo-Selbstständige und Freiberufler*innen werden völlig vergessen; hiervon sind auch viele Kunst- und Kulturschaffende betroffen
- In einigen Branchen wurden arbeitsrechtliche Standards, wie z.B. der 8-Stunden-Tag ausgehebelt
- In der Krise sind insbesondere diejenigen, die bereits vor der Krise zu »den Reichen« gehört haben, noch reicher geworden. Diese sollten auch für die Krise zur Kasse gebeten werden.
Dennoch: wir kommen nur zusammen durch die Krise – und solidarisch.